Die Angst des Autors vor seinem Manuskript

Es ist soweit, das Werk ist vollendet. Monate, oft Jahre, hat es gedauert, eine Seite nach der anderen zu füllen. Selbstzweifel, Schreibblockaden und Phasen der Lustlosigkeit durch quälende Selbstdisziplin zu überwinden. Aber nun ist der letzte Satz geschrieben, der letzte Punkt gesetzt. Manuskript fertig! Fertig?

Viele Autoren sind der Meinung, ihre Arbeit sei nach dem Setzen des letzten Punktes beendet. Das ist ein Irrtum, denn jetzt geht’s erst richtig los. Jetzt kommt eine wichtige Phase: die der Überarbeitung. Man sollte sich das Werk in aller Muße anschauen – selbstkritisch! So, als wäre man selbst nicht der Verfasser, sondern ein Leser. Stolpert man über ein Wort, einen Satz, einen Absatz oder gar ein ganzes Kapitel, sollte man genau überlegen, warum man gestolpert ist und worüber. Denn alles, worüber man stolpert, sollte besonders aufmerksam betrachtet werden. Soll man die Wortreihenfolge verändern? Soll man ein Wort austauschen oder vielleicht ganz streichen?

korrektur

Apropos streichen. Auch wenn man als Autor in seinen Text naturgemäß sehr verliebt ist, sollte man sich nicht scheuen, Wörter oder ganze Textteile zu löschen. Auch wenn man die Formulierung ganz großartig findet. Aber es geht nicht (nur) um großartige Formulierungen, sondern vor allem darum, ob die Formulierung für das Verständnis oder die Unterhaltung des Lesers notwendig ist.

Apropos Verständnis und Unterhaltung: Ich lese momentan das Buch »Dolores« von Stephen King. King ist angeblich der erfolgreichste Schriftsteller aller Zeiten …

Dieses von vielen hochgelobte Buch nervt mich! Es nervt mich vor allem deshalb, weil King sich in Beschreibungen ergeht, die viel zu ausführlich sind und für das Verständnis der Geschichte nicht notwendig. Teilweise sind sie auch abstoßend und unästhetisch. Zum Beispiel in dem Kapitel, wo es geht darum, dass die bettlägerige Protagonistin ihre Pflegekraft (Dolores) schikaniert, indem sie ins Bett kackt. Absichtlich! Das macht sie derart raffiniert, dass die Kacke im ganzen Zimmer rumfliegt. Und diese Kack-Schikane beschreibt King auf über 20 Seiten in epischer Breite … grauenhaft! Wäre ich seine Lektorin gewesen, hätte ich ihm empfohlen, die Szene auf weniger als die Hälfte zu kürzen und dabei auch die völlig überzogenen Übertreibungen abzuschwächen. So ist für mich zum Beispiel nicht nachvollziehbar, wie ein im Bett liegender Mensch es schaffen kann, seinen Darm so zu entleeren, dass das ganze Zimmer aussieht, als hätte ein Mistwagen mit Schleuderfunktion seine Ladung verteilt. Selbst die Gardinen sind voller Kacke. Kein Mensch kann auf diese Weise kacken … es ist rein physiologisch nicht möglich.

Apropos King: Ich habe auch sein Buch »Friedhof der Kuscheltiere« gelesen. 30 Prozent des Wälzers kann man problemlos streichen. Es handelt sich dabei um ausschweifende und für die Handlung völlig irrelevante Beschreibungen. Zum Beispiel beim titelgebenden Friedhof. Wen interessieren die Seiten füllenden Darstellungen der Friedhofsumgebung? Ich vermute, niemanden. Aber King liebt es, auch das winzigste Detail in einer Ausführlichkeit zu beschreiben, dass ich mich frage, warum er das macht. Eine Antwort darauf habe ich bislang nicht gefunden. Ich vermute die oben erwähnte Verliebtheit in den eigenen Text …

Zurück zum Thema:
Ein Manuskript sollte nicht nur stilistisch überarbeitet werden. Rechtschreibung und Grammatik sollten überprüft und Tippfehler beseitigt werden. Das ist in erster Linie die Aufgabe des Autors, dann die eines Korrekturlesers. Den empfehle ich übrigens immer, weil der Fehlerteufel tückisch ist. Außerdem zeugt ein schlampig oder gar nicht überarbeitetes Manuskript von wenig Respekt dem Leser gegenüber.

Mir persönlich macht das Überarbeiten meiner eigenen Manuskripte sehr viel Spaß. Im Gegensatz zum Schreiben ist dieser Vorgang für mich keine Arbeit, sondern das ultimative Vergnügen beim gesamten Schreibprozess. Dass so viele Autoren diese Überarbeitung als lästig empfinden, verstehe ich nicht, und mir drängt sich die Vermutung auf, dass sie Angst vor ihrem eigenen Werk haben und ein subtiler Selbstzweifel sie davon abhält, sich damit auseinanderzusetzen. Vielleicht könnte dabei die Erkenntnis entstehen, dass das Werk doch nicht der große Wurf ist.

Aber das ist – wie gesagt – nur eine Vermutung.


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Renate Blaes
Renate Blaes
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