TIM und das Fetale Alkoholsyndrom

TIM und das Fetale Alkoholsyndrom

Ende Mai bekam ich eine E-Mail von einer Frau, die vor über 40 Jahren einen kleinen Jungen adoptiert hat.

Es war Liebe auf den ersten Blick, und die Adoptivmutter war sehr glücklich über ihren Blondschopf mit dem Namen „Tim“.

Fetales Alkoholsyndrom

Doch sehr bald bemerkte sie, dass irgendetwas mit dem Baby nicht stimmte. Als Erstes fiel auf, dass es sehr (zu) klein war. Doch das war erst der Anfang einer Tragödie. Und nach sehr vielen und sehr leidvollen Jahren stellte sich heraus, dass Tim eine „unsichtbare Behinderung“ hatte: FASD (Fetales Alkoholsyndrom = Fetal Alcohol Spectrum Disorder).

„Tim – Ein Leben mit dem Fetalen Alkoholsyndrom“ ist ein berührendes Buch, und es ist ein wichtiges Buch. Denn was Alkoholkonsum während der Schwangerschaft anrichten kann, ist den meisten Menschen nicht bekannt. „Ein Gläschen wird schon nicht schaden“, so denken viele. Auch viele schwangere Frauen.

Doch diese Denkweise ist falsch! Und meist hat sie fatale Folgen. Vor allem für das Kind, das irgendwann kein Kind mehr ist und sich sein Leben lang mit dem Fetalen Alkoholsyndrom rumschlagen muss, denn die Folgen sind oft: angeborene Fehlbildungen, geistige Behinderungen, hirnorganische Beeinträchtigungen, Entwicklungsstörungen, extreme Verhaltensauffälligkeiten (Quelle: FASD Deutschland).

Allein in Deutschland kommt jede Stunde (!) ein Kind mit FASD zur Welt!

Ein Mensch mit dem Fetalen Alkoholsyndrom kann kein „normales“ Leben leben. Und Tim hatte das Glück, Monika Reidegeld als Adoptivmutter zu bekommen, denn wie diese Frau sich für Ihren Jungen eingesetzt hat – und immer noch einsetzt – ist erstaunlich und bemerkens- und bewundernswert, und ich frage mich, wo sie die Kraft hergenommen hat, diese (für mich unerträglich scheinende) Situation überhaupt zu ertragen. Denn erst als ihr Sohn bereits erwachsen war, wurde bei ihm FASD diagnostiziert.


Hier ein Ausschnitt aus dem Buch:

Wir strahlen vor Glück, als wir unseren Sohn nach drei Wochen aus dem Krankenhaus holen können. Auch zu Hause gibt er kaum einen Laut von sich. Meist verschläft er die Mahlzeiten. Es sieht aus, als wolle er sich nicht einleben, sondern für sich bleiben. Ich stehe vor seiner blau-weiß karierten Wiege und überlege jedes Mal erneut: »Soll ich ihn wecken oder ihn lieber schlafen lassen?« Er soll doch zunehmen. Der Kinderarzt versichert mir beim nächsten Besuch: »Das holt er schnell auf.«
Tatsächlich wächst Timmy in den ersten Lebenswochen rasant. Mich beruhigt, dass er sich mit drei Monaten mit einer Größe von 60 Zentimetern inzwischen im unteren Normbereich befindet. Aber sein Gewicht bleibt weiterhin im Verhältnis zur Körpergröße zu niedrig, auch sein Appetit ist nur mäßig, sein Kopf zu klein. Was mich aber am meisten beunruhigt, ist die Tatsache, dass er von sich aus keinen Blickkontakt zu mir aufnimmt. Beim Füttern nicht, beim Wickeln nicht und auch nicht, wenn ich mit ihm spiele. »Timmy … Kuckuck«, schmeichele ich ihm, verstecke mich hinter einem Tuch, das ich dann plötzlich lächelnd wegziehe. Aber er scheint keinen Spaß daran zu haben, dreht meist den Kopf weg, als ob er meinen Blick nicht aushalten kann. Oft ist es ihm zu laut. Wenn ich morgens ins Kinderzimmer komme, sieht er mich kaum an. Christian war immer völlig aus dem Häuschen gewesen, hatte vor Freude gestrampelt und laut gejuchzt. Ich bin irritiert.
Stattdessen betrachtet mein Kleiner oft minutenlang entrückt seine Händchen und lässt sich von nichts ablenken. Er reagiert kaum auf seine Umgebung. Im Gegensatz zu Christian hebt er den Kopf spät, brabbelt und lächelt kaum, lässt sich wenig auf Spielangebote ein, er greift nicht zu oder hält seine Rassel nicht fest. Er braucht sehr lange, um sich vom Rücken auf den Bauch zu drehen. In dem Alter, in dem andere Kinder zu sitzen beginnen, fehlt es ihm immer noch an Kraft. Als andere Kinder zu laufen beginnen, schafft er es endlich, gerade zu sitzen. Auch der Kinderarzt schiebt das darauf zurück, dass Tim eine Mangelgeburt gewesen sei. Er brauche noch seine Zeit. Und bei manchen dauere die Entwicklung eben länger.
Leider ist unser Sohn auch dauernd krank. Grippale Infekte, Bronchitis, Mittelohr- und Nasennebenhöhlenentzündungen sowie Polypen wechseln sich ab. Auch seine riesigen Mandeln sind häufig entzündet. Stets sind all diese Infekte von starken, hochgradigen Fieberschüben begleitet. Er hat einen Hodenhochstand. Seine Augen erweisen sich als überaus lichtempfindlich. Wenn unser Kleiner müde ist, schielt er. Sein rechtes Auge »rutscht« nach außen. Deshalb wird ihm später vom Augenarzt eine »Sehschule« verordnet, die wirkungslos bleibt. Heute weiß ich, dass Kinder mit FASD häufig Infekte haben. Die Sorgen reißen nicht ab.

Auch die weitere Entwicklung von Timmy verläuft zögerlich. Die Babymützchen sind ihm viel zu groß. Wir wundern uns, denn wir kennen nicht ein einziges Kind mit einem derart kleinen Kopf. Wir halten es für eine Laune der Natur. Seine Körpermaße sind bei den Pflichtuntersuchungen stets im unteren Normbereich, einmal sogar darunter. Ein typisches Warnsignal bei FASD. Eine kritische Bemerkung oder ein Hinweis seitens des Kinderarztes erfolgt jedoch nie, wodurch auch wir immer wieder indirekt beschwichtigt werden. Jochen bleibt optimistisch. Er vertritt die Meinung, dass sich alle körperlichen Defizite im Laufe der Zeit auswachsen werden. So lasse ich mich immer wieder gerne beruhigen und schiebe meine Beobachtungen und Befürchtungen, dass etwas nicht stimmt, zur Seite.


Das Buch kann man auf Monika Reidegelds Website bestellen.

Noch eine Anmerkung: Das Buch wurde nicht nur von Monika Reidegeld geschrieben, sondern auch von Ihrem Adoptivsohn Tim. Der Buchinhalt ist demzufolge sehr authentisch, spannend + bemerkenswert.

Titelbild Reidegeld

Renate Blaes
Renate Blaes
Artikel: 279

3 Kommentare

  1. sehr geehrte frau Blaes! wie kann man mit tim puffler mailen?
    koennen sie ihm meine adresse geben?
    vielen dank!

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